Die Kindertransport-Kinder 80 Jahre danach: „Wir dachten, wir erleben ein Abenteuer
Alte Erinnerungen

Die Kindertransport-Kinder 80 Jahre danach: „Wir dachten, wir erleben ein Abenteuer


1938 kamen die ersten judischen Kindertransportkinder aus Nazideutschland in Großbritannien an. Diese Woche veröffentlichen wir die Geschichten von sechs dieser Fluchtlinge, beginnend mit Bob und Ann Kirk.

FHeute jährt sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal . Das Pogrom vom 9. November 1938 in Nazi-Deutschland fuhrte der judischen Bevölkerung vor Augen, dass ihr Leben in akuter Gefahr war und sie das Land verlassen mussten, wenn möglich. Doch wohin? Andere Länder zögerten, Fluchtlinge aufzunehmen, und fur Erwachsene wurde es zunehmend schwieriger, das Land zu verlassen. Daher versuchten judische Organisationen in Deutschland, Europa und den USA, Kinder herauszuholen, indem sie Regierungen davon uberzeugten, Fluchtlingskinder mit befristeten Visa aufzunehmen.

Zehntausende kamen mit Zugen und Booten nach Großbritannien, organisiert von judischen Gruppen und anderen philanthropischen Organisationen. Diese Woche eröffnet im Judischen Museum in London eine Ausstellung, die die Geschichten von sechs Kindern erzählt, die im Rahmen dieser Rettungsaktion, die als Kindertransport bekannt wurde, aus Deutschland nach Großbritannien kamen. Die sechs sind heute zwischen 80 und 90 Jahre alt und haben Kurzfilme uber ihre Erlebnisse gedreht.

Ich besuchte jeden von ihnen zu Hause und hörte ihre bemerkenswerten, bewegenden, oft tragischen Geschichten. Manche sahen ihre Eltern nie wieder; alle litten unter dem Schmerz der Trennung; manche waren so traumatisiert, dass sie jahrzehntelang nicht daruber sprechen konnten – nicht einmal mit ihren Kindern. Doch in jedem von ihnen strahlt Trotz, Humor und Lebensfreude. Und jeder von ihnen geht jetzt in Schulen, um mit jungen Menschen uber das zu sprechen, was sie und ihre Eltern erlitten haben. Sie bezeugen dies sowohl als Akt der Erinnerung an ihre Eltern als auch als Warnung an die nächste Generation, dass Intoleranz, Hass und die Sundenbock-Politik gegenuber Minderheiten allgegenwärtige Bedrohungen darstellen.

Bob Kirk, 93, und Ann Kirk, 90: „ Die Eltern, die ihren Kindern erlaubten zu gehen, zeigten enormen Mut.“

Bob Kirk erhielt seinen scharfen, markanten britischen Namen von einem schottischen Hauptmann, als er gegen Ende des Krieges zur Armee ging. Sein richtiger Name ist Rudolf Kirchheimer. Ist noch etwas von Rudolf Kirchheimer ubrig? „Ich schätze, irgendwo muss es noch sein“, sagt er.

Kirks Vater besaß ein Textillager im norddeutschen Hannover. In den Jahren vor Hitlers Machtergreifung 1933 genoss Kirk idyllische Familienausfluge mit seinen Eltern, seinem Bruder und seiner zwölf Jahre älteren Schwester. Sein Vater hatte im Ersten Weltkrieg das Eiserne Kreuz gewonnen und war stolzer Deutscher. Er war fast 60 und wollte Deutschland nur ungern verlassen.

Kirks Schwester verließ Deutschland 1936 und zog zunächst nach Sudafrika, um dort zu arbeiten. Dort heiratete sie und ging dann nach Brasilien, wo sie und ihr Mann den Rest ihres Lebens verbrachten. Kirk traf seine Schwester erst 1981 wieder. Sein zwei Jahre älterer Bruder reiste im Februar 1939 mit einer Ausbildungs- und Arbeitserlaubnis nach Großbritannien. Seine Eltern meldeten ihr verbliebenes Kind daraufhin fur einen Kindertransport an, und er reiste kurz vor seinem 14. Geburtstag im Mai 1939 ab.

Bob Kirk fotografiert im Nazi-Deutschland im Jahr 1935. Foto: Mit freundlicher Genehmigung des Judischen Museums

„Ich wusste nicht wirklich, wohin ich sollte“, erinnert er sich. „In diesem Transport befanden sich etwa 200 Kinder, und wir waren alle, gelinde gesagt, etwas nervös. Man ist besorgt, aufgeregt, und die meisten von uns waren von der Vorstellung uberzeugt, dass wir auf ein Abenteuer gehen wurden und dass unsere Eltern naturlich nachkommen wurden, sobald sie ihre Papiere hätten.“ Er hatte seinen kleinen Koffer dabei, und seine Briefmarkensammlung wurde ihm an der niederländischen Grenze von den Nazis konfisziert. Familienfotos oder Erinnerungsstucke hatte er nicht dabei. „Meine Eltern waren so darauf bedacht, es nicht wie einen Abschied aussehen zu lassen, dass sie nichts mitnahmen, was darauf hindeuten könnte, dass wir uns nie wiedersehen wurden.“

Zum Abschied sagten seine Eltern ihm, er solle ein braver Junge sein und sie wurden ihn bald wiedersehen. Doch er sah sie nie wieder. Kirk kehrte 1949 nach Hannover zuruck und erfuhr, dass sie im Dezember 1941 nach Riga deportiert worden waren und nie zuruckgekehrt waren. Er besuchte auch das alte Textilgeschäft seines Vaters und traf dort auf zwei ehemalige Angestellte seines Vaters, die es nun fuhrten. Er erinnert sich, dass sie alles andere als erfreut waren, ihn wiederzusehen. Er hätte das Geschäft seines Vaters zuruckerobert, wenn er gekonnt hätte, doch als er die ehemalige Bank seines Vaters besuchte, erfuhr er, dass alle alten Unterlagen bei den alliierten Bombenangriffen zerstört worden waren.

Kirk sagt, er habe im Holocaust fast 20 Familienmitglieder verloren . Wie, frage ich ihn, sei er mit dem Schmerz umgegangen? „Schwer“, sagt er. „Es ist nicht so, dass man sagt: ‚Ich muss daruber hinwegkommen.‘ Man lebt einfach damit und verarbeitet es irgendwann. Ich habe mich nie schuldig gefuhlt, uberlebt zu haben. Ich war meinen Eltern fur ihren Mut unendlich dankbar. Alle Eltern, die ihre Kinder gehen ließen, zeigten enormen Mut.“

Nach seiner Entlassung aus der Armee absolvierte Kirk eine Ausbildung zum Buchhalter und stieg erfolgreich zum Unternehmenssekretär in einem Textilunternehmen auf – eine schöne Verbindung zum alten Beruf seines Vaters. Ende der 1940er Jahre lernte er Hannah Kuhn (die nach ihrer Heirat 1950 zu Ann Kirk wurde) kennen, eine weitere judische Gefluchtete aus Deutschland, die im April 1939 mit einem Kindertransport nach Großbritannien kam.

Die Kirks sagen, es habe ihnen großen Trost gespendet, miteinander uber ihre Erlebnisse sprechen zu können. Mit ihren Söhnen sprachen sie jedoch nicht daruber, was sie durchgemacht hatten. Sie wollten, dass sie „ein möglichst normales Leben fuhren und nicht mit unserer Geschichte belastet werden“. Einer ihrer Söhne erfuhr ihre ganze Geschichte erst, als sie 1992 in der örtlichen Synagoge einen Vortrag hielten. Bob spricht vom „40-Jahre-Syndrom“ – der Zeit, die Holocaust-Überlebende brauchten, um sich uber ihr Leben zu öffnen, und bis andere bereit waren, ihnen zuzuhören.

Ann, ein Einzelkind, das in Köln aufwuchs, verlor ebenfalls ihre Eltern. Ihr Vater war musikalisch und spielte mit Freunden Kammermusik in ihrer großen Wohnung. Selbst heute noch fällt es ihr schwer, Cellomusik, dem Instrument ihres Vaters, zuzuhören, ohne zu weinen. Ihre Eltern besaßen ein Boot, und Wochenendausfluge mit ihnen auf dem Rhein gehören noch immer zu ihren „schönsten Erinnerungen. Die Ruckkehr bei Sonnenuntergang mit Blick auf die Brucke und den Dom – Köln war wunderschön“.

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Ihre Erinnerungen daran, wie sie ihre Eltern verließ, um mit dem Kindertransport zu fahren – sie waren inzwischen in eine viel kleinere Wohnung in der Nähe von Berlin gezogen –, beruhren sie zutiefst. „Alle um uns herum weinten“, erinnert sie sich, „aber mein Vater versuchte, daruber zu scherzen. Ich erlebte ein großes Abenteuer. Was fur eine wunderbare Chance fur ein kleines Mädchen! Dann mussen sie in ein Taxi gesprungen sein, um zur ubernächsten Station zu gelangen, und da standen sie und winkten – winkten, bis ihnen fast die Hände abfielen, und das war der letzte Anblick, den ich je von ihnen hatte.“

Vor Kriegsausbruch im September 1939 erhielt sie häufig Briefe von ihnen. Anschließend erhielt sie eine Nachricht des Roten Kreuzes von ihrem Vater an ihre Pflegefamilie – zwei unverheiratete judische Schwestern mittleren Alters in Finchley im Norden Londons –, in der stand, dass seine Frau im Dezember 1942 deportiert worden sei. Im darauffolgenden Februar erhielt sie eine weitere Nachricht, in der es ihm gut ging und sie sich freute, dass es ihr in Großbritannien gut ging. Später erfuhr sie, dass er wenige Tage nach dieser Nachricht deportiert worden war, und viele Jahre später erfuhr sie, dass beide in Auschwitz umgekommen waren.

„„Es ist ein zusätzlicher Schmerz, dass sie nicht zusammen waren“, sagt sie. „Was mein armer Vater durchgemacht hat; was sie beide durchgemacht haben mussen. Dank des Mutes und der Weisheit meiner Eltern und der Gute der beiden Damen, die sich um mich gekummert haben, bin ich hier. Meine Bildungsarbeit ist zum Teil ein Gedenken an meine Eltern. Ihre Erinnerung lebt weiter, und sie sind nicht vergessen.“ Ich frage sie nach ihren Namen – Herte und Franz Kuhn. Manchmal sind Namen inmitten der nackten, brutalen Statistiken einfach notwendig.

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